Polens Protest für Demokratische Integrität

Back to the Roots

Die Rolle von Grassroot-Aktivismus in Polen

, von  Katharina Egle

Back to the Roots
Ogólnopolski Strajk Kobiet - der Landesweite Frauenstreik

„F*ck off“ - ist der Slogan der Abtreibungsrechtler*innen in Polen, die seit dem fast vollständigen Abtreibungsverbot im Jahr 2020 mit roten Blitzen auf Plakaten, Postern und OP-Masken protestieren. Am 23. Oktober vor zwei Jahren erklärte das oberste polnische Gericht Abtreibungen auf Grund fötaler Defekte für illegal. So verschärfte das Land die ohnehin schon restriktiven Abtreibungsgesetze in Polen. Seitdem gehen Aktivist*innen der Frauenbewegung Ogólnopolski Strajk Kobiet (OSK) in Zeiten restriktiver COVID-19-Maßnahmen immer wieder „spazieren“ und protestieren auch nach Lockdown-Lockerungen gegen die Regierungspartei “Recht und Gerechtigkeit” (PiS). Anfang diesen Jahres flammten die urbanen Grassroot-Proteste erneut auf, nachdem eine 37-jährige Mutter, der eine Abtreibung verweigert wurde, im Januar 2022 an den Folgen gestorben war. Die OSK hatte daraufhin Frauen im ganzen Land dazu aufgerufen, gegen die Abtreibungsgesetze sowie gegen die Regierungspartei PiS zu demonstrieren und Straßenblockaden zu errichten, „damit nicht noch jemand stirbt“.

So bedeutsam diese Frauen-Streiks für die Verteidigung der grundlegenden Menschenrechte und der Selbstbestimmung der Frauen in Polen, Europa und der Welt auch sind - die Protestbewegung auf den Straßen Polens spiegelt ein größeres Muster im besonderen Kontext der sogenannten Mittel- und osteuropäische Länder (MOEL) wider. Zum einen reflektieren die Proteste ein sich schon länger abzeichnendes Muster, nämlich die berechtigte Kritik an institutionalisierten Nichtregierungsorganisation (NROs). Zum anderen bestehen diese Proteste als Gegenbewegung des demokratischen Rückschritts in Ungarn und Polen innerhalb der EU. Doch auch durch das weltweit verbreitete (Wieder-)Aufkommen autoritärer Regierungen, sind es diese Proteste an der Basis, die Grassroot-Bewegungen, welche demokratische Bejahung und die Hoffnung auf das (Wieder-)Entstehen von Demokratien am Leben erhalten.

Die Besonderheit der MOEL

In ehemals kommunistischen Ländern war die Teilnahme an öffentlichen Angelegenheiten und die Ausübung des Rechts auf freie Meinungsäußerung häufig von Überwachung, Verhörungen und manchen Fällen von Verhaftung begleitet. Das Erbe dieser Umstände ist bis heute spürbar. Das geringere Vertrauen in die öffentlichen Institutionen hat auch zu einer geringeren Beteiligung an der MOE-Zivilgesellschaft im Vergleich zu anderen Ländern in der EU geführt. Hinzu kommt, dass die NROs in MOE eine Finanzierungskrise durchleben. Es ist zu beobachten, dass die vom polnischen Staat bereitgestellten Mittel für die Zivilgesellschaft von der PiS Agenda gesteuert werden. Dies bedeutet, dass seit 2015 NRO und zivilgesellschaftliche Organisationen, die gegen die Agenda der Regierungspartei arbeiten, negativ betroffen sind, während zivilgesellschaftliche Organisationen, die offen mit der konservativen ideologischen Linie der Regierung zusammenarbeiten, mehr finanzielle Unterstützung erhalten.

Hinzu kommt, dass sich in Polen die Ablehnung von institutionalisierten NROs immer weiter verbreitet - von der Gesellschaft im Allgemeinen, aber auch aus inneren Kreisen der NROs. Zentral in der Kritik steht die übermäßige „NROisierung“ der polnischen Zivilgesellschaft. Dies beschreibt im Allgemeinen den Wandel von lose organisierten Kollektivaktionen hin zu professionalisierten und ergebnisorientierten Nichtregierungsorganisationen. In anderen Worten: Es handelt sich um eine Bürokratisierung von zivilgesellschaftlichen Forderungen. Der Aktivismus wird durch NROs in Polen, aber auch andernorts, oft kanalisiert und von Zuschüssen abhängig gemacht. Sozialaktivist*innen fragen sich nun ob es eine NRO-Zugehörigkeit braucht um sich politisch zu engagieren, oder um sich als „politisch“ bezeichnen zu können. Forscher*innen wandeln zunehmend ihren Fokus - von NROs und „traditioneller“ Zivilgesellschaft gen Grassroots-Aktivismus.

Grassroot-Aktivismus für Demokratie

Auch aus diesen Gründen hat die EU ihre Mittel für die Zivilgesellschaft aufgestockt. Diese finanziellen Mittel sind wiederum auf Basisbewegungen ausgerichtet, um die Arbeit der Aktivist*innen vor Ort zu unterstützen und indirekte Kommunikationskanäle zu schaffen. Das Ziel ist es, informelle Bürgerbewegungen zu erreichen. Die Entscheidung der EU-Kommission, die Beziehungen zu Basisbewegungen und zivilgesellschaftlichen Organisationen zu vertiefen, wird sich in MOEL und im weiteren postsowjetischen Kontext aufgrund der historischen Besonderheiten dieser Länder als besonders wichtig erweisen. Damit dieser Ansatz erfolgreich ist, wird es jedoch nicht ausreichen, sich auf Schicksal und Geldhilfe zu verlassen. Es ist wichtig, dass sich nicht nur Aktivist*innen und Forscher*innen bewusst sind, wie wichtig Grassroot Bewegungen für eine demokratische sowie (re-)demokratisierende Gesellschaft sind. Die europäischen Entscheidungsträger*innen müssen das was als „politisch“ gilt neu definieren und Kommunikationskanäle für den Dialog mit Grassroot-Aktivist*innen an der Basis konkretisieren.

Historisch gesehen haben MOE Staaten in Europa einen anderen Weg zur Demokratisierung und Marktliberalisierung durchschritten als ihre westeuropäischen Pendants. Dies hat zu der zuvor beschriebenen, besonderen Sichtweise auf NROs geführt. Analyst*innen nutzen den Begriff „Post-NGO-ization Phase", um die Entstehung einer Zivilgesellschaft in MOEL zu beschreiben, die sich unabhängig von ausländischen NGOs kollektiviert und organisiert. Diese neue Form der zivilgesellschaftlichen Organisation nimmt meistens die Form spontaner, urbaner Mobilisierungskampagnen an, die Teil einer inländischen Opposition gegen politische Entscheidungen, Sparmaßnahmen oder Korruption sind. Ein solcher Grassroot-Aktivismus richtet sich insbesondere gegen die Professionalisierung und Bürokratisierung von Organisationen, die von außen finanziert werden. Die Spontaneität und die lockeren Strukturen des Grassroot-Aktivismus ermöglichen es den Akteur*innen auch, ihre Agenda ohne die sowieso schon knappen Ressourcen umzusetzen, um welche internationale NROs und traditionelle zivilgesellschaftliche Organisationen kämpfen müssen.

Im polnischen Kontext, so Michał Buchowski, „finden die Stimmen der Machtlosen und Armen selten den Weg durch anerkannte demokratische Verfahren.” Als zeitgenössisches Problem hat dies die Desillusionierung von Politik und Demokratie zur Folge, wobei sich Büger*innen von den demokratisch gewählten Eliten zurückgelassen und ignoriert fühlen. Der“Politik der kleinen Dinge„, dem“Not-in-my-back-yard"-Aktivismus (NIMBY) und seiner Verbindung zum Graswurzel-Aktivismus muss von politischen Akteur*innen mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden. Diese Art von Mobilisierung befasst sich vor allem mit kleineren Alltagsprobleme wie starkem Verkehr, Kinderbetreuung oder Bauplänen und ist in ehemals sozialistischen Ländern die am weitesten verbreitete Art des Aktivismus.

Alles kann politisch sein

Parallel dazu muss die Definition des Politischen erweitert werden. Bislang ist politischer Aktivismus weitgehend den Menschen vorbehalten, die sich selbst das Etikett „politisch“ anheften. Dies ist für protektionistische, nationalistische Länder, die eine pluralistische Gesellschaft ablehnen, nicht angemessen. In diesen spezifischen Kontexten sollte ein breiteres Spektrum von Aktivitäten als politisch definiert werden. Dazu gehören zum Beispiel Buchhandlungen, die LGTBQ*-, anarchistische oder Minderheits Sprach-Bücher verkaufen. Aber auch triviale Aktivitäten wie kostenlose Yogakurse tragen zu einer pluralistischen, integrativen Gesellschaft bei und sollten daher unterstützt werden. Politische Entscheidungsträger*innen müssen ihr Verständnis des “Politischen” über die traditionellen Institutionen hinaus erweitern. Wenn sie nicht erkennen, wie Debatten und Macht Teil des Alltagslebens sind, besteht die Gefahr, dass sie relevante Formen des politischen Protests außer Acht lassen.

Die jüngere Generation in MOEL setzt sich für ein breiteres und transparenteres Demokratiemodell ein, welches den aktuellen, illiberalen Trends entgegenwirken kann. In fast allen MOEL haben sich junge Bürger*innen an Protesten beteiligt oder diese organisiert und damit ihre tiefe Verbundenheit mit dem demokratischen Modell zum Ausdruck gebracht. Dies wird nicht nur als Forderung gegenüber ihren Regierungen, sondern auch an den Universitäten, in Clubs und Nachbarschaften artikuliert.

Wenn die europäische Unterstützung für demokratische, pluralistische Gesellschaften ernst sein sollte, ist es von grundlegender Bedeutung, dass die Besonderheiten der MOEL-Demokratien und der zivilgesellschaftlichen Organisationen berücksichtigt werden. Dazu gehören: ein breiteres Spektrum dessen, was als politisch gilt, eine ausdrucksstarke Unterstützung des Grassroot-Aktivismus an der Basis und klar definierte Kommunikationskanäle. Den Demonstrant*innen eine Stimme zu geben, ist von zentraler Bedeutung, denn sie tragen nicht nur Plakate mit Hashtags und einprägsamen Sprüchen, sondern eine viel größere Last mit sich herum - in dem jüngsten polnischen Fall, die Selbstbestimmung der Frau über ihren eigenen Körper.

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