Der Brexit: gefährlich für die EU, verheerend für Großbritannien

, von  Hadrien Bajolle, übersetzt von Laura Lubinski

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Der Brexit: gefährlich für die EU, verheerend für Großbritannien
Im Falle seiner Wiederwahl am Donnerstag will Premierminister David Cameron die Briten in einem Referendum über den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union entscheiden lassen. Foto: © Number 10 / Flickr / CC BY-NC-ND 2.0-Lizenz

David Camerons Haltung mag etwas irritieren. Der britische Premierminister hofft, mit der EU auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen und droht zugleich mit einem für 2017 angesetzten Referendum über den EU-Austritt. Diese widersprüchliche Position macht die unbequeme Lage deutlich, in der sich die Führung der Tories befindet. Sie ist sich des potentiellen Schadens eines EU-Austritts Großbritanniens durchaus bewusst, wird aber von der Parteibasis unter Druck gesetzt. Bedroht durch die UKIP scheint die konservative Partei die Kontrolle über ihren europapolitischen Kurs verloren zu haben.

Brexit würde Großbritannien isolieren

Ironischerweise setzt das Vereinigte Königreich mit dem Brexit das aufs Spiel, was es wiederzugewinnen hofft: seine Unabhängigkeit. Indem es die EU verlässt, gibt das Land auch die Möglichkeit Preis, die Regeln mitzubestimmen. Auch nach einem Austritt würden die in Brüssel gesetzten Standards weiterhin einen starken Einfluss auf Großbritannien ausüben, gerade in Anbetracht der asymmetrischen Beziehung zwischen einem isolierten Großbritannien und einem geeinten Europa.

Neben seiner Unabhängigkeit könnte auch die Einheit des Vereinigten Königreichs erneut ins Wanken geraten. Schottland und Wales sind wesentlich proeuropäscher gesonnen als das eigenbrötlerische England und könnten der englischen Isolationspolitik schnell den Rücken kehren. Auch die Irlandfrage würde so wieder auf den Plan gerufen. Die irische Republik und Großbritannien teilen seit 1923 ein gemeinsames Reisegebiet. Der Austritt des UK würde die Grenze zu Irland in eine Außengrenze der EU verwandeln und die Freizügigkeit zwischen Belfast und Dublin stark einschränken. Das würde die Spaltung der beiden Landesteile - ein nach wie vor sensibles Thema - noch verstärken. Die Briten werden vermutlich nicht allzu begeistert von der Vorstellung sein, zusätzlich Salz in diese Wunde zu streuen.

Wirtschaftliche und politische Kosten des Austritts

Zudem spricht vieles dafür, dass ein Brexit hohe soziale und ökonomische Kosten verursachen würde. Ein aktueller Bericht von Open Europe prognostiziert, dass das britische BIP im Falle eines Austritts im Jahr 2030 ganze 2,7% geringer ausfallen könnte als unter Beibehaltung des Status Quo. Dem Think Tank zufolge könnte das Vereinigte Königreich den Schaden begrenzen, indem es seinen Handel mit dem Rest der Welt stark liberalisiert, müsste aber mit entsprechenden Konsequenzen für die britische Gesellschaft rechnen. Man kann davon ausgehen, dass sich bedeutende Akteure der Finanzwelt, dem Herzstück britischer Wirtschaftsmacht, für die Vorteile eines großen einheitlichen Kapitalmarkts, wie die Europäischen Union ihn darstellt, entscheiden würden. Das zeigt sich an der Skepsis, mit der die Idee eines Referendums in der Londoner City aufgenommen wurde.

Das Denken britischer Konservativer ist von einer Logik geleitet, die nicht mehr in die heutige Welt hineinpasst. Welches Gewicht hat ein mittelmäßig großer europäischer Staat heutzutage? Wer glaubt, dass er auf Augenhöhe mit den neuen asiatischen Riesen verhandeln kann? Schon jetzt werden Sorgen über die Art und Weise laut, wie die TTIP-Verhandlungen mit den Amerikanern verlaufen. Was würde passieren, wenn unsere Mitgliedstaaten allein mit jemandem verhandeln müssten, der zehnmal mächtiger ist als sie? Es hat etwas von historischer Kurzsichtigkeit zu glauben, dass England ähnlich wie im 18. und 19. Jahrhundert abermals über die Weltmeere herrschen könnte. Heute kann nur die Europäische Union ihre Staaten vor dem Niedergang jedes einzelnen von ihnen schützen und sich im neuen Konzert mächtiger Nationen Gehör verschaffen.

Statt zu der gemeinsamen Anstrengung beizutragen, ein Europa zu schaffen, das stärker, aber gleichzeitig auch weniger komplex und verständlicher für seine Bürger ist, würde ein Austritt Großbritanniens die ohnehin schon schwierige Integration weiter schwächen. Europa müsste auf den britischen Beitrag zum gemeinsamen Budget in Höhe von 14 Milliarden Euro, den viertgrößten Beitrag nach Deutschland, Frankreich und Italien, verzichten. Schließlich würde die EU einen militärischen und diplomatischen Apparat verlieren, der allein auf sich gestellt von den aufstrebenden Mächten nicht ernst genommen würde, den Mitgliedstaaten der Europäischen Union jedoch zu kollektiver Macht verhilft.

Die Gefahr des Domino-Effekts

Für die EU wäre ein britischer Austritt ein schwer zu verkraftender Präzedenzfall. Die Gefahr besteht weniger darin, dass weitere Austritte folgen könnten, sondern dass eine Kultur des Erpressertums in die europäischen Institutionen Einzug halten könnte: „Gib mir dies oder das, sonst schmeiße ich die Sache hin“. Noch mehr als bisher würden Diskussionen im Rat dem Feilschen von Straßenhändlern gleichen und das Gemeinwohl würde zunehmend aus dem Blick geraten. Es wäre ein Todesstoß für jeden Gemeinschaftssinn.

Abschließend soll daran erinnert werden, dass selbst Thatcher in ihrer berühmten 1988er Rede in Brügge die britische Mitgliedschaft in der EU verteidigte und eine isolierte Existenz am Rande Europas für ihr Land ablehnte. Europa hat bereits gezeigt, dass es die Besonderheiten des britischen Falls einkalkulieren kann. Von wahltaktischen Manövern einmal abgesehen gibt es keinen Grund anzunehmen, dass Großbritannien und die EU keinen Kompromiss zustande bringen können, der für alle Seiten akzeptabel ist.

Ihr Kommentar
  • Am 12. Mai 2015 um 23:37, von  duodecim stellae Als Antwort Der Brexit: gefährlich für die EU, verheerend für Großbritannien

    Wenn Cameron die Hand an die Freizügigkeit und andere grundlegende Europäische Bürgerrechte legen will (wie er letztes Jahr noch posaunt hat), kann und darf man ihm nicht entgegenkommen! Da darf es keine Kompromisse geben! Dann lieber bye, bye UK...

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