Beitrag anlässlich des Online-Jugenddialogs der Europa-Union Deutschland zum Thema „Krieg in der Ukraine: Welche Zukunft für Europas Jugend?“ am 5. Juli 2022

Junge Menschen in Europa: Durch den Ukraine-Krieg haben sich Lebensrealitäten verändert

, von  Lukas G. Schlapp

Junge Menschen in Europa: Durch den Ukraine-Krieg haben sich Lebensrealitäten verändert
Foto: Unsplash / Marjan Blan / Unsplash Lizenz Die Herausforderungen und Auswirkungen des Krieges in der Ukraine belasten junge Menschen in ganz Europa.

Es ist Krieg in Europa. Russlands Angriff auf die Ukraine hat die deutsche und europäische Realität spürbar verändert. Doch wie blicken junge Menschen in Europa auf den bis heute andauernden Krieg? Wie hat sich die Perspektive der Jugend verändert, für die „Krieg in Europa‟ lange unvorstellbar klang? Nach Antworten suchte der Online-Jugenddialog mit Emmeline Charenton, Max Lucks und Andriy Kolobov.

Die Lieferung schwerer Waffen, der Umgang mit russischer Kultur in Deutschland oder der drohende Energieengpass: Von einem Sommerloch kann in diesem Jahr keine Rede sein. Denn die Auswirkungen des Krieges in der Ukraine wühlen die Gesellschaft in Deutschland auf und treffen sie in vielen Lebensbereichen.

Doch vergleicht man die Herausforderungen der deutschen Bevölkerung durch den Krieg mit der bitteren Realität der Menschen in der Ukraine, wirken die eigenen Fragen und Sorgen stellenweise klein und nebensächlich. Klar ist: Der Krieg in der Ukraine trifft Ukrainer:innen und die Menschen, die dort leben oder von dort flohen, am stärksten. Trotzdem braucht es auch in Deutschland und Europa weiterhin Austausch und Diskussionen darüber, was dieser Krieg bedeutet und wie er Deutschland und Europa verändert.

Doch besonders viele junge Menschen, für die der Krieg einen der tiefsten Einschnitte in ihre kollektive Lebenswelt bedeutet, finden in den öffentlichen Debatten keinen Platz oder zumindest kein Gehör. Der Online-Jugenddialog der Europa-Union Deutschland am 5. Juli 2022 setzte sich zum Ziel, dem entgegenzuwirken, indem er den Fragen rund um die aktuellen Sorgen und Herausforderungen mit jungen Perspektiven begegnete.



Graphic Recording vom Online-Jugenddialog am 05. Juli. (Copyright: Christine Oymann und EUD)


Als Diskussionsteilnehmer:innen debattierten Max Lucks, Bundestagsabgeordneter aus Bochum und Mitglied des Auswärtigen Ausschusses, Emmeline Charenton, Bundessekretärin der Jungen Europäischen Föderalisten Deutschland, und der Generalsekretär des Ukrainischen Jugendrings Andriy Kolobov. Energetisch und doch auch einfühlsam wurde die Veranstaltung durch Helena Sattler moderiert. Wie bei allen Jugend- und Bürgerdialog-Veranstaltungen waren die mehr als 45 Zuhörer:innen dazu angehalten, die Diskussion durch ihre eigenen Fragen und Anmerkungen zu bereichern.

Ein Nebeneinander von Krisen

Bereits bei den ersten Wortmeldungen an diesem Dienstagmittag wird deutlich, dass der Krieg gegen die Ukraine eine Zäsur für die gesamte europäische Gemeinschaft darstellt. Der Behauptung, dass viele junge Menschen in Deutschland und Europa durch die Geschehnisse seit dem 24. Februar 2022 noch stärker betroffen und fassungslos sind als viele Menschen im Erwachsenenalter, stimmen Max Lucks sowie Emmeline Charenton, die kurzfristig anstatt der verhinderten Daniela Broda (Vorsitzende des Deutschen Bundesjugendrings) die Diskussion bereicherte, ebenfalls zu. „Das Narrativ von ‘Alles ist gut’ ist seit dem russischen Angriffskrieg aufgebrochen”, gibt Lucks unumwunden zu.

Charenton berichtet, dass ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg für die Jugend in der EU wie ein fernes Phänomen wirkte – und das trotz der Annexion der Krim im Jahr 2014 und dem Truppenaufmarsch im Vorfeld des Krieges. Lucks möchte die Sorgen der europäischen Jugend keinesfalls kleinreden, stellt aber dennoch fest: „Vom Krieg in der Ukraine sind in erster Linie Ukrainer:innen betroffen, die im Krieg aufwachten. Es leiden aber auch sehr viele junge Russ:innen, deren Zukunftsperspektive sich über Nacht völlig gewandelt hat.‟

Als die Abstimmung unter den Teilnehmer:innen ergibt, dass der Klimawandel noch vor Krieg in Europa und finanziellen Belastungen wie Jugendarbeitslosigkeit als präsentestes Problem betrachtet wird, macht sich Lucks für ein Umdenken stark. „Diese Herausforderungen sind so eng miteinander verwoben, dass eine Fokussierung auf das eine drängende Problem unmöglich ist.” Wichtig sei, dass bei politischen Entscheidungen weiterhin aber noch konsequenter immer mit einem erweiterten Sicherheitsbegriff gearbeitet werde, der alle Dimensionen von Sicherheit mitdenke. Charenton unterstützt Lucks Plädoyer ebenfalls, da auch ihr eine eindeutige Entscheidung bei der Umfrage sehr schwer fiele.



Bei der Teilnehmer:innen-Umfrage während der Veranstaltung wurde Klimawandel (59%) als präsentestes Problem für die Zukunft vor Krieg in Europa (35%) und finanziellen Belastungen (6%) gesehen. Frage: Was ist für euch momentan präsenter, wenn ihr an eure Zukunft denkt?(Copyright: EUD)



Die ukrainische Jugend möchte sich mehr Gehör verschaffen

Andriy Kolobov, der aus Kyiv zugeschaltet war, ist für die Diskussion eine unverzichtbare Komponente. Nuanciert vermittelt er die Gefühlslage, aber auch die Forderungen junger Menschen in der Ukraine. Auch mehrere Monate nach Kriegsbeginn fordern junge Menschen von der deutschen Regierung und der Europäischen Kommission weiterhin stärkere Sanktionsmaßnahmen gegen Russland und die Lieferung von Waffen für die Verteidigung des eigenen Landes. Junge Menschen in der Ukraine seien auf der einen Seite als Soldat:innen im Einsatz, auf der anderen Seite engagieren sich viele Jugendliche durch Einsatz in humanitären und logistischen Bereichen. Was alle eint, sei der Wunsch in einer demokratischen und freien Ukraine in Frieden zu leben.

Aber trotz dieser Einigkeit innerhalb der ukrainischen Jugend beobachte der Ukrainische Jugendring auch negative Entwicklungen, die von der eigenen Regierung ausgingen. Denn obwohl der Jugendring samt seiner Mitgliedsorganisationen die Voraussetzungen der „Jugend, Frieden und Sicherheit”-Agenda erfülle, seien junge Menschen noch nicht ausreichend in die Entscheidungsprozesse für menschliche Sicherheit und nachhaltigen Frieden eingebunden. Auch einen Mangel an frei zugänglichen Informationen beklagt Kolobov. Insgesamt sieht er es kritisch, dass die eigentlich geplanten Dezentralisierungsprozesse, von der auch die Zivilgesellschaft profitieren könnte, nun in vielen Bereichen verschwunden seien.

Kolobov freut sich über eine mögliche europäische Perspektive der Ukraine, aber macht sich ebenfalls dafür stark, dass im Dialog über gemeinsame Ziele und unterschiedliche Bedürfnisse zwischen der Ukraine und der Europäischen Union noch mehr diverse Akteur:innen gehört werden müssen. Auch Lucks und Charenton bewerten den Kandidatenstatus der Ukraine positiv, sehen aber eine vorhergehende Reform der EU hinsichtlich sozialer und wirtschaftlicher Herausforderungen der Beitrittskandidaten als unumgänglich an.

Mehr erklären, weniger Aktionismus

Ein Thema, das bei einer deutschen Debatte um den Krieg in der Ukraine nicht fehlen darf, ist die Bundeswehr. Die Wiederbelebung der Wehrpflicht lehnen sowohl Charenton als auch Lucks ab. Beide machen deutlich, dass die veränderte Kriegslogik – hin zu divers geführten Kriegen – und die voranschreitende Technisierung des Militärs die Argumente für eine Wehrpflicht ins Leere laufen lassen. Trotzdem würde sich Charenton eine Bundeswehr in der Mitte der Gesellschaft wünschen und ist deshalb überzeugt: „Junge Menschen sollten die Möglichkeit erhalten, die Bundeswehr kennenzulernen.” Wie die in Deutschland lebende Jugend auf das Sondervermögen für die Bundeswehr im Umfang von 100 Milliarden Euro blickt, können Lucks und Charenton mit Gewissheit beide nicht beantworten. Lucks hat im Bundestag für das Sondervermögen gestimmt. Er verstehe aber trotzdem jeden jungen Menschen in seinem Wahlkreis, der sich wundere, weshalb 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr bereitgestellt werden, wenn der Investitionsstau in vielen anderen Bereichen unübersehbar sei. Er selbst weiß: Es liegt an Politiker:innen wie ihm selbst, mehr und besser zu erklären.

Auf die Frage aus dem Publikum, ob ein Deutsch-Ukrainisches Jugendwerk nun ins Leben gerufen werden müsse, reagiert Emmeline Charenton, die selbst hauptberuflich für das Deutsch-Französische Jugendwerk arbeitet, differenziert. Ja, der Wunsch von Jugendverbänden und der organisierten Zivilgesellschaft der Ukraine bestmöglich zu helfen, sei wichtig und sollte unterstützt werden. Ob ein Jugendwerk, das in beiden Ländern viele bürokratische Anforderungen erfüllen muss, für die Lebensrealität von jungen Menschen in der Ukraine wirklich die beste Lösung ist, bezweifelt Charenton dennoch.

Die eineinhalbstündige Diskussion zeigt, dass die Auswirkungen des Krieges für junge Menschen in Deutschland und Europa allgegenwärtig sind. Doch junge Menschen sind nicht nur Leidtragende, sondern suchen bereits jetzt nach Lösungen, um die Zukunft für ein friedliches Europa proaktiv mitzugestalten. Dass viele Ansätze auch innerhalb der diversen europäischen Jugend noch nicht ausdiskutiert sind, macht nur deutlich, wie wichtig offene, transparente und ernstgemeinte Diskussionen und Konsultationen auf verschiedenen Ebenen in Wirklichkeit sind.

Dieser Beitrag ist im Rahmen einer Kooperation zwischen der Europa-Union Deutschland und treffpunkteuropa.de entstanden, in der wir über die bundesweite Bürgerdialogreihe „Europa - Wir müssen reden!“ berichten.

Der Online-Bürgerdialog wurde von der überparteilichen Europa-Union Deutschland e.V. veranstaltet und ist Teil des Bürgerdialogprojekts „Krieg in der Ukraine – Bürgerdialoge zur Zukunft der EU“. Die Veranstaltung wurde durch das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung gefördert und fand in Kooperation mit den Jungen Europäischen Föderalisten (JEF) Deutschland und dem National Youth Council of Ukraine (NYCUkraine) statt.

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